Leserbrief: Nicht von der Hektor-Hektik anstecken lassen

Zum Artikel: „Mikroskope für besonders begabte Schüler“ und der Einrichtung der Hektor-Kinderakademie in Gölshausen vom 4. August:
Trotz wiederholt schlechter „Pisa-Noten“ und hinlänglich erforschter Ursachen scheint eine Reform des Bildungssystems unter anderem auch wegen fehlender Haushaltsmittel nicht in die Gänge zu kommen, was für betroffene Lehrer, Eltern und vor allem viele Schüler eine andauernde große psychische Belastung bedeutet. Dass mit Hilfe einer „Hektor-Stiftung II“ nun auch mit öffentlichen Mitteln Millionenbeträge fließen, um flächendeckend „Kinderakademien“ für hochbegabte Kinder (betrifft zwei bis drei Prozent der Schüler) im Grundschulalter einzurichten, finde ich gegenüber den anderen 97 bis 98 Prozent beschämend. Begabtenförderung ja, aber muss es schon im Grundschulalter sein und, wie bereits von den Initiatoren angekündigt, demnächst auch im Kindergarten? Vor allem darf es nicht zu Lasten der anderen gehen. Auch normal und weniger Begabte schauen gern in ein Mikroskop.

Bei aller Jubelstimmung über die neue Kinderakademie, sollte folgendes auch bedacht werden: Gewinne, die in Stiftungen fließen, bringen keine Steuern und fehlen dem Staat bei der Wahrnehmung seiner sozialen Verantwortung für alle. Stiftungsgelder werden nach den selten uneigennützigen Interessen der Geldgeber vergeben. Staat, Kommunen und Schulen sollten sich nach unseren pädagogischen Vorbildern vorrangig um die große Zahl der Schüler kümmern, die, aus welchen Gründen auch immer, in ihren Bildungschancen benachteiligt sind. Wie will man einkommensschwachen Familien oder in der Hausaufgabenhilfe engagierten Personen und Gruppen erklären, dass für Nachhilfe und Auslagen keine Mittel vorhanden sind, für Hochbegabte aber alles frei ist? Wie ist zu erklären, dass die im deutschen Schulsystem zu frühe und übertriebene schulische „Selektierung“ zu Lasten sozialer Integration immer mehr in Frage gestellt, andererseits exklusiv für Hochbegabte eine neue „Sonderschule“ geschaffen wird?

Wie „Hilfe für Schüler“ sozialer, sinnvoller und effektiver gestaltet werden kann, zeigt die Gründung eines Fördervereins der Pfarrer Wolfram-Hartmann-Schule in Neibsheim (BNN vom 5. August). Bleibt zu hoffen, dass dieses Beispiel Schule macht, damit Schule in Zukunft möglichst für kein Kind und keine Familie mehr zur seelischen Dauerbelastung wird, sondern ein Lebensraum, in dem sich die unterschiedlichsten Begabungen möglichst optimal entfalten können. Den Eltern hochbegabter Kinder kann man nur raten, dass sie sich nicht von der „Hektor-Hektik“ anstecken lassen.
Ich bezweifle, ob es Grundschülern etwas bringt, wenn man sie nachmittags quer durch die Region chauffiert, um sie an einem Akademiekurs über Altgriechisch oder das Leben der Dinosaurier teilnehmen zu lassen. Vermutlich haben alle mehr davon, wenn sie in dieser Zeit, ihren lernschwächeren Klassenkameraden bei den Hausaufgaben helfen und danach wie ganz normale Kinder mit ihren Freunden spielen dürfen.

Arianna Schäfer
Zunftstraße 6/1
Bretten

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Eine Antwort zu Leserbrief: Nicht von der Hektor-Hektik anstecken lassen

  1. H.U. sagt:

    Oft sind es die Eltern, die es gerne hätten, dass ihre Kinder (natürlich) hochbegabt sind – was meist aber nicht den Fakten entspricht.

    Es gibt Eltern, die die Lese- und Rechenschwäche ihrer Kinder als Unterforderung eines Genies deuten. Paradox.

    Wenn dann noch besonders rüpelhaftes Benehmen dazu kommt, wird das meist zusätzlich als Geniestreich gedeutet.

    Wirklich hochbegabte Menschen sind sehr sehr selten – auch in Gondelsheim. Und der erste Kommentar hierzu hat völlig recht: auch „normale“ Kinder sollen durch ein Mikroskop schauen dürfen.

    Übrigens kann man Genies nicht „züchten“. Hochbegabung wird immer ein Geschenk bleiben und sich dadurch auszeichnen, auch unter widrigen oder eben normalen Umständen durchzubrechen.

    Fakt ist, dass die Anzahl hochbegabter Kinder anscheinend wächst – in krassem Gegensatz zur Realität. Am besten frägt man mal in den Personalabteilungen mittelständiger und großer Unternehmen nach, wie denn so die Bewerbungsgespräche laufen – egal ob Hochschulabsolvent oder Hauptschulabschluss.

    Hochbegabung ist ein verquerer Zeitgeist-Hype. Die reale Quote ist seit Jahrhunderten gleich. Man kann die Gesetze der Statistik nicht ändern, auch nicht ehrgeizige Eltern.

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