„Hart an der Grenze zur Legitimation“

Immer weniger Bürger gehen zur Urne – besonders bei Gemeinderats- und Oberbürgermeisterwahlen
20 Prozent Wähler: eigentlich ein „Misstrauensvotum“
Ein Bezug zum Ort stärkt die Motivation für die Wahl
Von unserem Redaktionsmitglied Matthias Kuld
Karlsruhe/Pforzheim/Bruchsal. Gerade noch im grünen Bereich. Bei der Oberbürgermeisterwahl in Bruchsal lag die Beteiligung beim ersten Durchgang vor zwölf Tagen bei 52,1 Prozent. Mehr als 50 Prozent – das gilt gemeinhin als akzeptabel. Doch ohne die außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung von 62 Prozent im Stadtteil Obergrombach wäre die Quote unter 50 Prozent gerückt.

Ein Blick nach Pforzheim: Dort wählten Anfang Juni nur 36,4 Prozent der Berechtigten ihren neuen Oberbürgermeister. Mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen hat das Gerd Hager locker zum Sieg gereicht. Dennoch: Hager erhielt von 84 342 Wahlberechtigten 18 326 Stimmen – 21,7 Prozent. Ein Oberbürgermeister für jeden fünften Pforzheimer? Heinz Fenrich ist noch schlechter dran. Karlsruhes Oberbürgermeister kann sich nach der Wahl 2006 auf Basis der Zahl aller Wahlberechtigten nur auf das Votum von 16,7 Prozent der Bevölkerung stützen.

Gewählt aber ist, wer die (absolute) Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen auf sich vereint. Doch welche Bedeutung kommt der Wahlbeteiligung zu? Faktisch keine – aber sie bietet umfassend Spielraum zur Interpretation des Resultats.
„Hart an der Grenze zur Legitimation“ sieht der Tübinger Wahlforscher Hans-Georg Wehling ein Ergebnis, wenn die Wahlbeteiligung unter 30 Prozent liegt. Und er hat dafür ein Beispiel: Als vor acht Jahren der Herrenberger Oberbürgermeister Volker Gantner wiedergewählt wurde, gingen 20,4 Prozent zur Urne. Für Wehling ist das weniger ein Wahlergebnis als vielmehr ein „Misstrauensvotum“.

Die Wahl ist das Königsrecht der Demokratie. Und dennoch: Bundestag, Landtag, Gemeinderat, Oberbürgermeister – die Deutschen gehen immer seltener wählen. Überall zeigen die langfristigen Kurven für die Wahlbeteiligung nach unten: Bei den Bundestagswahlen von knapp 90 auf inzwischen knapp 80 Prozent, bei Gemeinderatswahlen von 70 auf 50 Prozent. Bei Oberbürgermeisterwahlen ist es oft noch deutlich weniger. Woran liegt’s?

Der Politikwissenschaftler Wehling nennt als erstes die zunehmende Mobilität: „Die Menschen wohnen an einen Ort, arbeiten am anderen. Da entsteht nirgendwo eine Bindung.“ Als zweites nennt er „Zufriedenheit“. Wenn jemand vor Ort kein bestimmtes Prob–lem habe, geht er selten wählen. Zum einen, weil die Wahl nicht mehr als staatsbürgerliche Pflicht verstanden werde, zum anderen, weil auch das Wahlrecht keinen Anreiz bietet.

„Bei der Oberbürgermeisterwahl wird eigentlich vorausgesetzt, dass ich die Kandidaten kenne.“ Das ist schon bei vielen Eingesessenen nicht der Fall, noch weniger bei Zugezogenen. Geht es um den Gemeinderat, tut der oft handtuchgroße Wahlzettel sein Übriges zur Abschreckung. Einer Wahlpflicht widerrät Wehling allerdings: „Nicht zuletzt deshalb, weil man fragen müsste, wie das durchgesetzt werden soll.“

Thorsten Faas versucht das Phänomen zu ergründen, das für ihn einen „weißen Fleck der Wahlforschung“ bedeutet. Der Politologe von der Universität Mannheim hat die Oberbürgermeisterwahl 2004 in Duisburg untersucht – mit 48 Prozent Wahlbeteiligung. Er kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie Wehling. Gebildete, ältere Menschen mit starkem Bezug zum Ort sind bei der Wahl dabei. Andere eben nicht. Und Faas hat noch etwas beobachtet: Für die Menschen ist die Bundespolitik einfach wichtiger. Was um die Hausecke herum passiert, zählt wenig. Er baut seine Untersuchung nach einer Differenz- und einer Konvergenzthese auf: Haben lokale Wahlen einen eigenständigen Charakter oder sind sie nationale „Nebenwahlen“? Die Ergebnisse sind nicht ganz eindeutig, aber klar wird, dass auch bei Kommunalwahlen die Parteizugehörigkeit eine Rolle spielt.
Als mögliche Gründe der geringen Wahlbeteiligung nennt Faas einen „unpolitisch-technischen Charakter von Kommunalwahlen“ und die „geringe Mobilisierung“.

Auf welches Votum wird sich der am Sonntag zu wählende Bruchsaler Oberbürgermeister stützen können? Gehen über 50 Prozent der Berechtigten zur Wahl? In Pforzheim waren es beim zweiten Durchgang (36,4 Prozent) weniger als beim ersten (39,7).

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8 Antworten zu „Hart an der Grenze zur Legitimation“

  1. ine.-möll. sagt:

    Hinter den gewählten Volksvertretern steht nur wenig (Wahl-)Volk!

  2. RL sagt:

    @ NY nicht nur – aber das auch.

  3. a sagt:

    Schon immer war die Identität Geburtsort von Wahlkandidaten zum Wahlort ein (fast) alles entscheidendes Kriterium, um gewählt zu werden.

    Was für ein (geistiges) Armutszeugnis von Wählern und Gewählten! 🙁

  4. NY sagt:

    @RL

    wenn sie den fehlenden Bezug der Bürgermeister und Gemeinderäte zur Gemeinde meinen, dann gebe ich ihnen Recht.

    Was bekommt man denn als Wähler noch an geeigneten Kandidaten vorgesetzt? Selbstherrliche Provinzfürsten, denen das eigene Wohl und PR-Show deutlich näher liegt, als das Wohl der Bürger, die leider viel zu oft und immer öfter die Resultate verfehlter Politik ausbaden müssen.

  5. RL sagt:

    Das sind die Folgen der Generation Rollkoffer bzw. Globalisierung. Man zieht von Projekt zu Projekt. Von Job zu Job. Nach dem 10 Ortswechsel in 6 Jahren verliert man den Bezug zu so etwas wie Gemeinde.

  6. mm sagt:

    das wirkliche Problem ist doch, dass es den Politikern völlig schnuppe ist, von welcher Mehrheit sie gewählt wurden. Hauptsache Mehrheit und wenn auch nur einer gewählt hätte! Oder hat schon mal jemand Monate nach einer Wahl einen Artikel über zu niedrige Wahlbeteiligung gelesen?

  7. -an-i- sagt:

    Kann es sein, dass mangelnde Anforderungsprofile und spätere „Narrenfreihet“, ohne jegliche persönliche Haftung für die Versenkung von Steuergeldern, die Wähler gleichgültig und ohnmächtig macht?

    Und die Parteizugehörigkeit?
    Die schreckt natürlich die parteilosen und Mitglieder anderer Parteien ab, wenn die eigene Klientel nicht auf dem Wahlzettel steht.

    Außerdem, was ist mit der Ehrlichkeit? Wo ist sie geblieben…?

    Wofür braucht die Politik Immunität?

    Fragen über Fragen.
    Das gilt natürlich für den gesamten „Politzirkus“.

  8. -nz- sagt:

    Die Nichtwähler bleiben die stärkste Partei – und sie wissen auch warum. Im Gegensatz zu den Experten aus der Politikwissenschaft.

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