Was ist los mit unserer Justiz?

Das könnte man nach der Verurteilung der Berliner Verkäuferin Barbara E. durch das Berliner Landesarbeitsgericht (LAG) fragen, die angeblich zwei Pfandbons im Wert von zusammen 1,30 Euro unterschlagen haben soll. Bewiesen ist der Verkäuferin die angebliche Unterschlagung der Pfandbons vom Berliner Landesarbeitsgericht ja nicht. Es geht lediglich von „Verdachtsmomenten“ aus und begründete sein Urteil damit, dass die Entlassung der Verkäuferin durch den Arbeitgeber wegen des Vertrauensbruchs rechtens sei. Damit stürzen die Richter eine Familie ins soziale Abseits ohne Rücksicht auf die endgültige juristische Klärung des Vorwurfs der bewiesenen Unterschlagung durch höhere Gerichtsinstanzen. Immerhin gründete das LAG sein Urteil letztlich auf dem mit dem „Verdacht“ verbundenen „Vertrauensverlust“ seitens des Arbeitgebers gegenüber der Verkäuferin. Da ergibt sich schon die Frage: Seit wann ist Vertrauensverlust ein Straftatbestand, der eine Verurteilung rechtfertigt?

Das ist auch der Grund für Rechtsanwalt Benno Hopmann, gegen das seiner Meinung völlig inakzeptable Urteil gegen seine Mandantin Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einzulegen. Nach Lage der Dinge könnte hier durchaus eine andere Beurteilung des Sachverhalts Platz greifen. Vor allem sind erhebliche Zweifel an der fragwürdigen Begründung der Berliner Richter mit dem Vertrauensverlust angebracht, so dass durchaus ein anderes differenzierteres Urteil zustande kommen könnte.

Immerhin wird hier lediglich mit einem „Vertrauensverlust“ statt mit Beweisen operiert. Das hat verständlicherweise die öffentliche Meinung auf den Plan gerufen. Hier wurde das Berliner Urteil gegen die Verkäuferin unterschiedlich meist rein gefühlsmäßig beurteilt. Das reichte von „gerecht“ bis „Empörung“ bei der Politik (Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse). Mag sich Thierse in seiner (politischen Bewertung des LAG-Urteils) auch im Ton vergriffen haben, so ganz Unrecht hat er mit seiner Urteilsschelte offensichtlich nicht! Denn weniger als 29 Prozent der Bürger empfinden das LAG-Urteil als gerecht, während es 67 Prozent der Menschen als ungerecht empfinden (dpa).

Stellt man nämlich das Urteil des Berliner LAG gegen die von Kaiser’s/Tengelmann entlassene Verkäuferin Barbara E. ordnungspolitisch dem Urteil des Bochumer Landgerichts gegen den früheren Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post AG, Klaus Zumwinkel, gegenüber, dann neigt man dazu, den Kritikern des Berliner LAG-Urteils Recht zu geben. Und hier muss klar an die Worte des derzeit amtierenden Präsidenten des Karlsruher Bundesgerichtshofes, Klaus Tolksdorf (ein früherer Polizeibeamter), erinnert werden, der sich öffentlich um das Image der deutschen Justiz sorgt. Dabei hatte er seinen sorgenden Blick auf das Bochumer LG-Urteil gegen Zumwinkel gerichtet, dem die Hinterziehung von gut einer Million Euro an Steuergeldern zugrunde liegt. Die Verkäuferin verlor ihre Existenz. Zumwinkel dagegen erhielt „zwei Jahre auf Bewährung“ und eine Geldstrafe von 1 Million Euro, weil (wer weiß, wie da von wem gerechnet wurde) er „nur weniger“ als eine Million Euro dem Staat vorenthalten und sie am Fiskus vorbei illegal ins Ausland transferiert hat, damit er einer Freiheitsstrafe nach einer Grundsatzentscheidung des BGH vom vergangenen Dezember entgehen konnte. Kaum schwer zu erraten, welche Geisteshaltung der Handlungsweise dieses früheren Beraters von Bundeskanzlerin Merkel hier zugrunde liegt (die Kanzlerin in Wirtschaftsfragen beraten und parallel hierzu eine Millionen Steuern hinterziehen!).

Zumwinkel hat sich mittlerweile in seine „Burg“ am Gardasee samt Bundesverdienstkreuz (für was wohl?) zurückgezogen, nachdem er die hinterzogene Million ans Finanzamt und die Geldstrafe (aus welcher Westentasche?) bezahlt hat. Die Verkäuferin verlor dagegen ihre Existenz! Zumwinkel erhält eine vertragsmäßig abgesicherte Rente von monatlich 89.250 Euro bis an sein Lebensende, gezahlt aus Rücklagen bei der Post.

Hier kann man mal sehen, was die Justiz mit ihren Urteilen anrichtet. Zwei Schicksale: Eines verbunden mit dem Verlust der sozialen Existenz und erheblichem Einkommensverlust von monatlich gut 500 Euro wegen einer (noch) nicht klar bewiesenen Unterschlagung von zwei Pfandbons (Wert: 48 + 82 Cent = 1,30 Euro), das andere de facto ohne Bestrafung der Steuerhinterziehung von einer Million Euro, weil „Bewährung“ und monatliche Rente in Höhe von 89.250 Euro wohl kaum als Strafe im Sinne des Wortes bezeichnet werden können!

Möglich wurde dies durch einen (vermutlichen) Deal zwischen den Verfahrensbeteiligten vor dem Bochumer Landgericht (eine Staatsanwältin musste ja vorher gehen), um die hinterzogene Summe auf unter eine Million Euro herunter zu rechnen, sonst hätte Zumwinkel nämlich nach der BGH-Grundsatzentscheidung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden müssen. Während nämlich die Staatsanwaltschaft Zumwinkel die Hinterziehung von 1,2 Millionen Euro vorwarf, ließ das Landgericht dies nicht gelten, weil es die Vorgänge aus dem Jahr 2001 als „verjährt“ (auf Basis eines Deals?) ansah (Az.: 1 StR 416/08). So blieb Zumwinkel wegen seiner schwerwiegenden Straftat eine Freiheitsstrafe erspart und er kann sich nunmehr in der Schweiz von seinen moralischen Sünden „erholen“. Passende Meinung eines Berliner Zeitungslesers hierzu: „Lasst den Kleinen Mann Richter sein und Deutschland wird gerechter!“

Diese Deals nahm BGH-Präsident Klaus Tolksdorf bereits Ende Oktober 2005 zum Anlass einer Kritik, als es um die Verantwortung der Manager Ackermann/Esser ging. Tolksdorf im Dezember vergangenen Jahres: „Bei welchen Vergehen es heute zwei Jahre auf Bewährung gibt, da kann ich mir nur die Augen reiben.“ Deutliche Worte des BGH-Präsidenten, der im Zusammenhang mit Managern feststellte, sie hätten ihre Bodenhaftung verloren. Wie gut, dass es diesen Mann an der Spitze des BGH gibt.

Man reibt sich in der Tat manchmal die Augen, wenn man sieht, welche Urteile die deutsche Justiz fällt oder auch wegen Verjährung durch zu lange Bearbeitungszeiten nicht (mehr) fällen konnte. Es ist doch ein Skandal, wenn sich beispielsweise ein Mörder, wie vor vielen Jahren, vor der TV-Kamera auf das Portal eines Hamburger Gerichts stellt und nach unendlich langer Wartezeit öffentlich lauthals seinen Strafprozess fordert.

Wenn ich mir unterm Strich manches Urteil im Zusammenhang mit HARTZ-IV-Prozessen in Erinnerung rufe, kann ich wirklich nur mit dem Kopf schütteln. Und dann kann ich Volkes Zorn in den Leserbriefspalten sehr gut verstehen, wenn geschrieben wird, „aber in Deutschland kann man sich als Reicher freikaufen. Lächerlich diese Justiz!“ oder: „Na bravo, der deutsche Justizbasar der Nadelstreifenliga ist mal wieder eröffnet! Das ist moderner Ablasshandel!“

Ähnlich unverständlich ist ein Urteil des Freiburger Landgerichtes in jüngster Zeit, das den beamteten Klinikchef Hans-Peter Friedl für seine Kunstfehler mit 1,98 Millionen Euro Abfindung aus der Klinikkasse nach Hause schickte, weil die Rechtslage so konstruiert ist. Wäre das LG Freiburg seinerzeit dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine zweijährige Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe von 100.000 Euro verbunden mit einem dreijährigen Berufsverbot gefolgt, hätte der Arzt aus dem Beamtenverhältnis entlassen werden müssen. So aber kann er sich mit 1,98 Mio. Euro (vermutlich) in Kanada ein schönes Leben machen! Wer soll da noch Vertrauen in die Justiz haben?

Ein anderes Beispiel: Da hat ein Tu-Nix-Justizbeamter aus Berlin 45 Gerichtsakten fünf Jahre lang (!) unbearbeitet einfach im Schrank verschwinden lassen, weil er in der Dienstzeit private Verhandlungen führen „musste“, wodurch nach dessen Worte die Hälfte der Arbeitszeit drauf ging. Urteil: Acht Monate Haft, ausgesetzt zur Bewährung!

Also, es könnte ja durchaus einen Grund für die vielfachen Strafaussetzungen zur Bewährung geben: Überfüllte Justizvollzugsanstalten! Das aber wäre auch wirklich nur der einzige Grund. Wundern würde es mich nicht!

Aber die Justiz ist ja unabhängig und nur dem Gesetz schlechthin unterworfen, das sie manchmal sehr zum Leidwesen der Betroffenen gefährlich bis zum Vertrauensbruch gegenüber der Demokratie in Deutschland biegt. Eigentlich hat ja auch die Justiz als Teil staatlicher Gewaltenteilung (Judikative) eine ordnungspolitische Verantwortung, die dem allgemeinen Rechtsempfinden in einer Demokratie gerecht zu werden hat. Schließlich ist die Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz ein demokratischer Bundesstaat, in dem die vollziehende Gewalt nach dem Gewaltenteilungsprinzip normiert ist. Das bedeutet, dass in einem sich aus Artikel 20 Grundgesetz ergebendem Rechtsstaat für den Bürger Rechtssicherheit mit in etwa übereinstimmenden Urteilsmaßstäben herrschen sollte, woran man angesichts der Handhabung des Rechts durch die Justiz schon manchmal zweifeln könnte.

Peter H. Karlsdorf-Neuthard (04.03.09)

Anmerkung der Redaktion:
Zu den oben aufgeführten Ungereimtheiten unserer Justiz gehört auch der Fall des Thüringischen MiPrä Althaus. Keine Frage, dass sein Skiunfall, bei dem eine mehrfache Mutter zu Tode kam, eine menschliche Tragödie ist. Und dennoch, wissend, dass das „Schnell-Urteil“ gegen ihn von einem österreichischen Gericht gesprochen worden ist, dennoch bekommt man irgendwie schon ziemlich Bauchgrimmen, wenn man zur Kenntnis nehmen soll, dass Althaus zwar 33.000,- € Geldstrafe zahlen soll, dass aber das Schmerzensgeld für die Hinterbliebenen auf lediglich 5000,- € beziffert wurde. Seltsam, finden Sie nicht?

Beitrag mit freundlicher Genehmigung übernommen von Bruchsal-Neu

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10 Antworten zu Was ist los mit unserer Justiz?

  1. RL sagt:

    Die Justiz kann dafür nix. Die Judikative macht die Gesetze nicht. Das hat wie immer mal wieder die Politik versaut… Die macht Gesetze.

  2. A/P sagt:

    „Was ist los mit unserer Justiz?“

    Es geht drunter und drüber! 🙂

  3. -sol- sagt:

    Ich mache mir Sorgen um die Gerechtigkeit, wenn das so weiter geht.

  4. Nag. sagt:

    Sorgt unsere Justiz für Recht und/oder Gerechtigkeit?

  5. Pollak sagt:

    es geht auch pragmatischer :
    „Wo Gericht, da ist auch Ungerechtigkeit.“ (Aus Krieg und Frieden von Leo Tolstoi )

  6. mm sagt:

    dazu passt die römische Juristenweisheit : Coram iudice et in alto mare in manu dei soli sumus“ Auf hoher See und vor Gericht, sind wir allein in Gottes Hand!

  7. J-N sagt:

    Mit derartigen Urteilen gewinnt die deutsche Rechtsprechung kein Vertrauen der Menschen.

    Von ihr geht ein enormer Vertrauensverlust aus.

  8. av sagt:

    Vertrauen wird dadurch erschöpft, dass es in Anspruch genommen wird.
    Bertolt Brecht

  9. av sagt:

    Es ist schwieriger, eine vorgefaßte Meinung zu zertrümmern als ein Atom.
    Albert Einstein

  10. xav. sagt:

    Ergänzenswert

    Der ehemalige VW-Manager Peter Hartz
    – nach dem wurden die Gesetze I-IV des Arbeitslosengeldes 2 benannt! –

    wurde wegen Schmiergeldzahlungen mit einem Schaden für VW von 2,6 Millionen Euro zu einer Geldstrafe von 576.000 Euro sowie zu einer Haftstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.

    Einfach nur lächerlich! 🙂

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