Mancher Erstklässler fühlt sich als Mensch zweiter Klasse

Die Anschaffungen von Ranzen und Schreibmaterial trüben bei Bedürftigen die Freude vor dem ersten Schultag
Von unserem Redaktionsmitglied Elvira Weisenburger
Karlsruhe/Stuttgart. Für Tom (6) war sofort klar, welcher Schulranzen es sein muss: „Der mit dem feuerspeienden Drachen drauf!“ Chantal kommt nächste Woche ebenfalls in die Schule. Doch sie hat es sich verkniffen, überhaupt von so einem schicken neuen Ranzen zu träumen – obwohl es ihr der mit den aufgedruckten weißen Einhörnern ja sehr angetan hat. „Aber Mama muss schon so arg sparen, für meine Hefte und die ganzen Schulsachen“ – erstaunlich abgeklärt klingt das aus dem Mund einer Sechsjährigen. Chantals Familie lebt von Sozialleistungen. Eine spendable Oma hat sie nicht. 140 Euro für ein Schulranzen-Set mit Mäppchen und Turnbeutel? Utopie. Nur wegen des feuerspeienden Drachens hätte Toms Mutter diesen Betrag zwar auch nicht hingeblättert. „Doch dieser Ranzen war der leichteste, der am besten auf dem schmalen Kinderrücken sitzt“, betont die Mama des Abc-Schützen. Auch solche Erwägungen fallen in Chantals Familie den Sparzwängen zum Opfer. „So manche Familie, die von Arbeitslosengeld oder Hartz IV lebt, spart am Freibad-Eintritt und am Essen, damit das Geld für die neuen Schulhefte reicht“, weiß Sozialarbeiterin Elisabeth Förter-Barth, die bei der Diakonie Baden die Abteilung Kinder, Jugend und Familie leitet. Und dann gebe es noch den anderen Typ arme Familie, die es einfach aufgibt, ihre Kinder zum Schulstart komplett auszustatten: „Da bekommt das Kind zwar auch noch das neue Schnickschnack-Mäppchen – aber dann reicht das Geld nicht mehr für Hefte.“ Ihren Abc-Schützen packten die Eltern dann kurzerhand einen Allzweck-Notizblock ein.

Dass der Einschulungstag in solchen Familien eher ein Stressfaktor als ein Festtag ist, liegt nahe. „Schon bei den Kindern spürt man oft deutlich die Resignation“, sagt die studierte Theologin Förter-Barth. „Die Mädchen und Jungen wissen ganz genau: Sie sind Menschen zweiter Klasse.“ Und dieses erniedrigende Gefühl wollen nun immer mehr Städte und Hilfsorganisationen den Kindern aus sozial schwachen Familien nehmen. Die Stadt Karlsruhe zum Beispiel zahlt jetzt erstmals zu Schuljahresbeginn einen Zuschuss von maximal 150 Euro für die Erstklässler-Ausstattung an Bedürftige. „Die Familien geben die Belege über die Anschaffungen bei den Schulen ab und bekommen dann das Geld erstattet“, sagt eine Sprecherin der Stadt. Rund 530 Erstklässler im gesamten Stadtgebiet hätten einen Anspruch auf diese Extra-Hilfe. Auch die kleine Gemeinde Forst hat einen 150-Euro-Zu- schuss beschlossen. Heilbronn spendiert 100 Euro für Schulmaterialien, Pforzheim 30 Euro, und viele Wohltätigkeitszirkel wollen mit Sachspenden helfen. „Das ist eine tolle Aktion – weil sie den Kindern zugute kommt“, lobt Sozialarbeiterin Elisabeth Förter-Barth die Karlsruher Zuschuss-Aktion. „Die Kinder haben eine riesige Freude, wenn sie sich ihr Wunschmäppchen aussuchen können.“

Doch vorerst hängt alles an der Hilfsbereitschaft einzelner Städte und Vereine. Nun hoffen alle Beteiligten auf die nächste Reform der Sozialleistungen. Denn seit Hartz IV hat sich das Problem für arme Kinder zugespitzt. Früher gab es für Schulzubehör einen gesonderten Zuschuss von 51,13 Euro pro Kind und Jahr. In Zeiten von Hartz IV ist angeblich der gesamte Bedarf in die monatlichen Regelsätze von 208 Euro pro Kind einberechnet. Doch für den Schulanfang und andere Anlässe größere Beträge wegzusparen? Das schaffen viele Familien einfach nicht. Diese Erkenntnis hat sich inzwischen weitgehend durchgesetzt. Signalwirkung hatte schon ein Urteil des Sozialgerichts Berlin von 2006: Eine auf Sozialleistungen angewiesene vierfache Mutter klagte auf Extra-Zuschüsse für Schulzubehör – und bekam recht. Die Richter verwiesen darauf, dass eine „Ausgrenzung“ der Familie zu vermeiden sei. Ende Mai dieses Jahres hat nun auch der Bundesrat die Bundesregierung angewiesen, die Sozialleistungen für Kinder armer Familien neu zu regeln. Was dabei für Schulmaterial und Schulessen zu veranschlagen ist – das sind umstrittene Punkte. Bis politische Beschlüsse stehen, haben Familien wie die von Chantal gewiss schon wieder andere heikle Termine hinter sich gebracht. Wie meint ein Mitarbeiter der Karlsruher Arbeitsagentur: „Das Problem, dass das Geld nicht reicht, haben wir nicht nur jedes Jahr zum Schulanfang, sondern auch an Weihnachten, vor Kommunion und Firmung.“

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4 Antworten zu Mancher Erstklässler fühlt sich als Mensch zweiter Klasse

  1. Wit./MD sagt:

    Weil es dabei um jeden einzelnen Menschen geht!

  2. ell.ga. sagt:

    „Das Problem, dass das Geld nicht reicht, haben wir nicht nur jedes Jahr zum Schulanfang, sondern auch an Weihnachten, vor Kommunion und Firmung.“

    Wenn man das weiß, dann sind das planbare Ausgaben. Und die müssen dann ihren wichtigen Zweck erfüllen!

  3. ernst./K sagt:

    Leider auf der Strecke! 🙁

  4. Tess. sagt:

    Von einer staatlichen Bank (KfW) = Kreditanstalt für Wiederaufbau wurden ein paar hundert Millionen Euro an eine bankrotte US-Bank überwiesen: sprich echt verbraten oder voll in den Sand gesetzt.
    Und finanzielle Unterstützungen für arme Familien in Sonderfällen sind nur schwer durchzusetzen.

    Wo bleiben denn da das Bundesfamilien- und das Bundessozialministerium?

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