Die neue soziale Realität

MICHAEL LEHNER
Wie bei der mageren Rentenerhöhung erweckt die Bundesregierung bei der Aufbesserung der Pflegeleistungen den Anspruch sozialer Sensibilität. Aber sie wird diesem Anspruch kaum gerecht. Das Prinzip, dass hauptsächlich jenen Menschen geholfen wird, die sich nicht aus eigener Kraft um die Bewältigung ihres Alltags mühen (wollen), wird eingehalten: Während die Heimunterbringung von Alten und Behinderten das Gemeinwesen Milliarden kostet, knausert der Staat an jenen Bürgern, die sich der meist unfassbar schweren Aufgabe der häuslichen Pflege stellen.
Das Vorgehen hat Methode: Ähnlich wie den pflegenden Familien ergeht es Eltern, die ihre Kinder unter erheblichen Opfern selbst erziehen, und auch Rentnern, die sich und der Gesellschaft den weit überwiegend unverschuldeten Offenbarungseid beim Sozialamt ersparen wollen. Der Staat bestraft Eigenverantwortung und fördert persönliche Kapitulationen, obwohl klar sein sollte, dass eine derartige Politik Folgekosten provoziert. Schwer verständlich ist dabei das Geplapper von Nachwuchspolitikern, die Ansprüche einer jungen Generation reklamieren, die angeblich betrogen wird, wenn die Gesellschaft ihren moralischen Pflichten nach einem würdigem Umgang mit Alten und Schwachen nachkommt.

Der Einwand, dass es dabei um den Umgang mit einer Generation geht, die 50 Jahre Arbeitsleben als ziemlich normal erlebte (und Sechs-Tage-Wochen), wird schon als unanständig empfunden, obwohl er auf der Hand liegt. Eine derartige Politik stärkt Institutionen, von der öffentlichen Säuglingsbetreuung bis zu den Altenheimen. Der Nachweis, dass staatliche Stellen bessere Fürsorge leisten als der einst übliche Familienverbund ist allerdings nicht erbracht – eher der Nachweis des Gegenteils. Statt Einsicht zu gewinnen, fördern Volksvertreter den Irrweg in eine allumfassende Staatsfürsorge, die längst erkennbar auch die Steuerzahler überfordert. Der Einwand, dass solches Handeln christlichen und weltlichen Soziallehren zutiefst widerspricht, wird nicht gehört. Die Auswirkungen bis ins Bildungssystem, in dem so mancher Student auf Zuwendungen von Opa oder Oma angewiesen ist, werden ignoriert – wie die Realität junger Familien, die nur mit großelterlicher Hilfe den Spagat zwischen Doppelverdiener-Realität und Kinderwunsch bewältigen und sich so verpflichtet fühlen, später für die Alten da zu sein, wenn diese selbst Hilfe brauchen.

All das mag Sozialromantik sein; aber es ist auch eine Realität, in der die Gesellschaft Nachkriegsarmut überstand und Wirtschaftswunder zuwege brachte. Wer Menschen, die ihr Päckchen selbst tragen, vorhält, dass die halbherzige Aufbesserung von Renten und Pflegegeld eigentlich nicht zu verantworten sei, versündigt sich am Konsens: Was nun nachgebessert wird, gleicht nicht einmal annähernd die Lasten der Mehrwertsteuererhöhung aus – und bleibt weit unter den Milliardensummen, die ohne viel Federlesens zur Rettung von Staatsbanken hingeblättert werden, deren Manager sonst gern in vorderster Reihe Alarm schlagen, wenn der Staat seinen Bürgern beistehen will.

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11 Antworten zu Die neue soziale Realität

  1. Joh. sagt:

    Wie im richtigen Leben – das meiste ist gerade mal Durchschnitt.

    Sodass auch herausragende Zeitungsberichte in Deutschland Mangelware sind. Und daher fallen sie so positiv auf.

    Danke – Herr Lehner.

  2. -az- sagt:

    MICHAEL LEHNER – ein Journalist mit Durchblick. Kompliment!
    Aber warum nur einer?

  3. Schm. sagt:

    Man müsste es als Verarschung bezeichnen.

    Aber einen solch (derben) Ausdruck benutze ich einfach nicht.

  4. Ottm.Schu. sagt:

    3,1 Prozent aktuelle Inflation – 1,1 Prozent Rentenerhöhung ab 1. Juli

    Was soll das, und was ist das?

  5. i-L sagt:

    An die letzte Rentenerhöhung kann ich mich nicht mehr erinnern. So lange ist das schon her.

  6. H/M sagt:

    Eine echt zu vernachlässigende Größe, wenn man diesen Ausgaben die Verluste der deutschen Landesbanken aus der Finanzkrise gegenüberstellt.

  7. AP sagt:

    Diese außergewöhnlich starke Rentenerhöhung soll Ausgaben von 11 Milliarden Euro bis zum Jahr 2012 verursachen.

  8. OS-T sagt:

    Und ca. 20 Millionen Rentner sind halt Wähler.
    Das besagt doch alles!

  9. -rath. sagt:

    Das geschieht ausschließlich in guter Absicht!

    Das nächste Jahr (2009) ist ein Wahljahr.

  10. Frz. sagt:

    … „bei der mageren Rentenerhöhung erweckt die Bundesregierung … den Anspruch sozialer Sensibilität.“

    Ab dem 1. Juli 2008 sollen die Renten um monatlich 1,1 PROZENT!!! steigen.

  11. mm sagt:

    wer möchte denn heute noch seine Altersversorgung in den Händen von Politikern wissen, die sich doch nur um ihre eigene Versorgung kümmern. Der „fürsorgliche“ Staat sorgt nur noch für sich selbst, um nicht zu sagen, er betrügt seine Bürger mit immer neuen Einschränkungen zu ehemals garantierten Leistungen. Einem privaten Versicherer könnte man vor Gericht Betrug vorwerfen, dies beim Staat zu versuchen ist gleichbedeutend mit der Forderung auf Herausgabe zu unrecht bezahlter Beiträge — an den Hausmeister einer Versicherungsgesellschaft!

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