Mehr als ein Job

Ohne Schulsozialarbeiter Frank Becker wäre der Unterricht an der Hebel-Schule in Bretten kaum möglich
VON ROLAND PETER
Montagmorgen, 9 Uhr. „Wo ist Kemir?“ Dessen Freundin Natalia (alle Namen der Kinder und Lehrer sind geändert) lächelt sichtlich unsicher, will nicht so recht antworten: „Er kommt heute nicht.“ Frank Becker ist ungeduldig, fragt nach: „Warum denn nicht? Hat das was mit seiner Schlägerei vom Freitag zu tun?“ Natalia druckst herum: „Sein Vater sagt, dass er eine Woche Pause von der Schule machen soll.“ Becker schüttelt den Kopf: „Das geht so nicht.“

Der Sozialarbeiter sitzt seit einer halben Stunde am Schreibtisch in der Johann-Peter-Hebel-Schule in Bretten. Da der Schulbetrieb erst seit wenigen Minuten läuft, hat Becker Zeit, dem Journalisten die Vorkommnisse vom Freitag der Vorwoche zu schildern. Kemir hatte seinen Klassenkameraden Mehmet angegriffen – und zwar im Beisein der Lehrerin. Blut floss. Was soll jetzt passieren, wie wird der Junge bestraft? Alles noch unklar.

Damit steht wie so häufig eine offene Frage am Beginn eines normalen Arbeitsalltags. Es ist nicht die einzige. Ungeklärt ist auch, was mit Fatimah passiert, der türkischen Schülerin, die ebenfalls am Freitag bei Becker Schutz suchte: Ihr Vater misshandelt die 16-Jährige immer wieder. Der Sozialarbeiter hat ihr geraten, auszuziehen, hätte auch ein Zimmer über das Jugendamt zur Verfügung. Doch Fatimah zögert. Sie weiß nicht: Soll sie ihre Mutter und ihre Geschwister verlassen?

Es sind die Dramen des Alltags, mit denen ein Schulsozialarbeiter ständig konfrontiert wird. Becker ist bereits seit dem Jahr 2000 an der Grund- und Hauptschule, die ganztags von rund 600 Schülern besucht wird. Der Sozialarbeiter war anfangs noch für drei Schulen in der Stadt zuständig. Doch das erwies sich als wenig sinnvoll. Becker: „Ich war nie da, wo ich gerade gebraucht wurde.“ Deshalb stellte die Stadt zwei weitere Sozialarbeiterinnen in Teilzeit an, so dass inzwischen in Bretten 1,9 Stellen zur Verfügung stehen. Schüler und Lehrer profitieren vom besonderen Verständnis, das Oberbürgermeister Paul Metzger (CDU) und der Gemeinderat für die Situation der Schulen haben. Bretten war eine der ersten Städte im Land, in der ein
Schulsozialarbeiter eine Stelle unabhängig von Zuschüssen erhielt.

Heute, sieben Jahre später, zieht Metzger ein deutliches Resümee: „Ich möchte auf Schulsozialarbeit nicht mehr verzichten.“
Die Zahlen sprechen für sich. Zwischen Januar und Ende Juli 2006 führte Becker 184 Beratungsgespräche mit Schülern, Eltern und Lehrern, von September bis Ende Dezember waren es 240.

„ D u b i s t t o t . I n d e r n ä c h s t e n P a u s e . “
9.30 Uhr. Ohne anzuklopfen, stürmen zwei Mädchen aus der fünften Klasse ins Büro. Wortführerin ist Ines, die Kleinere von beiden, mit großen Augen und kindlicher Stimme: „Hier, ich hab´s geschrieben.“ Es geht um das größte Streitthema überhaupt, um Freundschaft, um Verständnis füreinander. Ines hat sich auf einmal nicht mehr mit ihrer Freundin Dafne verstanden. Sie hatten die Hausaufgabe, aufzuschreiben, was Freundschaft für sie eigentlich heißt. Ines hat das ausführlich getan, hat den Brief geschmückt mit zwei Herzen. Dafnes Zettel umfasst vielleicht zehn Zeilen, irgendwie hingeschmiert. Becker freut sich über das Schreiben von Ines, die Herzen haben es ihm angetan. Aber Zeit hat er keine. Er greift zum schwarzen Terminkalender: „Wann habt ihr Unterricht?“ Immer wieder muss er heute Kinder auf einen der kommenden Tage vertrösten.

9.40 Uhr. „Du also tot. In nächster Pause bist du fällig“. Der Junge, der seiner Klassenkameradin diesen Brief geschrieben hat, besucht die dritte Grundschulklasse. Es ist weniger ein Brief als ein Zettel, zerrissen, bemalt mit einer Figur mit langen Haaren, auf der Brüste angedeutet sind. Die Eltern rufen bei Becker an, suchen um Hilfe nach. Ihre Tochter will nicht mehr in die Schule gehen. Becker spricht kurz mit ihnen, verspricht, mit dem Mädchen Kontakt aufzunehmen. Über den Jungen ist er wütend: „Der ist krank“, sagt er nach dem Gespräch mit den Eltern und schüttelt den Kopf. „So etwas mit neun Jahren!“ Dem Drittklässler droht der Ausschluss vom Unterricht, sogar eine Untersuchung beim Amtsarzt. Bei dem Mädchen vermutet der Sozialarbeiter, dass es nicht unbeteiligt ist und ständig eine Opferrolle einnimmt.

10.30 Uhr. Der 44-jährige Becker macht den Tiger. Hände über dem Kopf nach vorne gestreckt, schreit er laut. Fast klingt es wie bei Tarzan. Die Jungen und Mädchen der Sechsten wagen es kaum, den lauten Schrei nachzumachen. Die Klasse bildet zwei Gruppen, die sich entscheiden müssen: Entweder Tiger oder stille Geisha mit beiden Händen vor der Brust oder sie spielen den Samurai mit dem Schwert. Alle Schüler einer Gruppe sollen sich auf eine Figur einigen – und, darauf legt Becker Wert: Auch die Stillen müssen einbezogen sein. Der Sozialarbeiter ist erstaunt, dass es gleich auf Anhieb klappt. Er will bei dem Klassentraining nicht nur sehen, dass die Absprache hinhaut.
Auch die Disziplin ist wichtig, gerade in dieser Klasse. Ihre Lehrerin Maren K. (32) berichtet, dass die 23 Kinder „aufsässig“ geworden sind, sie machen keine Hausaufgaben mehr, mit Einzelnen gibt es ständig Streit. Zu Letzteren gehört Jens. Er könnte viel mehr leisten, wirkt schüchtern, ist aber ein „großes Schlitzohr“ (Becker).

J e n s w i l l s i c h n i c h t w e h r e n
10.40 Uhr. Maren K. und Jens dreschen aufeinander ein. „Los doch“, ruft die Lehrerin. Sie haut den Jungen fest, immer wieder treffen die Schläge auf seinen Körper. Obwohl es weh tun muss, wehrt Jens sich nicht. Seine Hände hängen herunter. Erst zum Schluss gibt es eine Reaktion: Der Schüler streckt seine Zunge heraus. Der Kampf mit den Batacas, länglichen, roten und gelben Kissen, bringt beim Klassentraining viel zu Tage. Auch im Verhältnis zwischen Lehrerin und Schüler. Maren K. gibt zu, dass ihr das „gut getan hat, draufzuhauen.“ Der Sozialarbeiter sieht ihr Verhalten in der Klasse kritisch, obwohl sie sich sehr engagiere. Aber Maren K. „reitet auf Jens´ Problemen vor der gesamten Klasse herum.“ Das wirke auf Jens zu sehr als Bloßstellung. So ist das Verhältnis zwischen Schulsozialarbeiter und Lehrern nicht spannungsfrei. Becker erklärt das damit, dass der Erziehungsbereich in der Ausbildung der Pädagogen zu kurz komme: „Das holt sie dann in der Praxis ein.“ Immerhin fast 100 Mal ließen sich Lehrer im vergangenen Jahr von ihm beraten.
Auch Maren K. sieht den Sozialarbeiter an ihrer Schule außerordentlich positiv: „Ohne ihn wäre der Unterricht kaum mehr möglich.“

12 Uhr. Der Sozialarbeiter ist nach eineinhalb Stunden Klassentraining erschöpft. Ohne Pause geht es weiter zum Streitschlichter-Training. Mehrfach springen Jungen und Mädchen auf den Sozialarbeiter zu: „Herr Becker, Herr Becker“, heißt es hier und heißt es da. Er ist beliebt, eine Art Vaterersatz.
12.45 Uhr. „Kirsten hampelt in der ersten Stunde auf dem Stuhl herum, lacht laut, lässt sich nichts mehr sagen.“ Die Lehrerin sitzt mit müdem Gesicht in der Besprechung zum Fall Kirsten. Becker und zwei weitere Pädagoginnen beratschlagen das weitere Vorgehen. Die 12-Jährige ist im E-Zug der Schule für Kinder mit Erziehungsproblemen, wird damit von der zweiten bis zur fünften Stunde einzeln unterrichtet. Nach zwölf Wochen muss entschieden werden, wie es weitergeht. Dieses Projekt zur Schulentwicklung geht stark auf Becker zurück. Die Pädagoginnen erkennen seine Ratschläge auch klar an. Da bislang bei Kirsten keine Fortschritte erkennbar sind, will Becker künftig in der ersten Stunde dabei sein. Danach soll Kirsten mit seinen
Beobachtungen konfrontiert werden. Ob es hilft?

13.30 Uhr. Becker erfährt, dass Kemir tatsächlich von seinem Vater eine Entschuldigung für die ganze Woche erhalten hat. Doch die Lehrerin will das nicht auf sich beruhen lassen: Kemir soll für einige Zeit Schulausschluss erhalten.
14 Uhr. Neun Mädchen im Alter von 14 und 15 stürmen Beckers Büro. Sie streiten sich, wissen aber eigentlich nicht warum. Die großgewachsene Marie ist laut, spricht mit aggressivem Ton, dominiert alle.
Um 15 Uhr lässt Becker ein Rollenspiel machen, er kommt aber nicht weiter. Es reicht.

Die Themen dieses Tages in einem anderen Jahr :

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2 Antworten zu Mehr als ein Job

  1. Proll sagt:

    Jeder Schulleiter in Bretten wird bestätigen, dass die derzeitige Ausstattung der Schulen mit Sozialarbeitern nicht ausreichend ist. Wie es um die Bereitwilligkeit des Schulträgers steht, hier Abhilfe zu schaffen, kann jeder Bürger selbst herausfinden, er möge in einer Gemeinderatssitzung die Frage nach einer weiteren Stelle für einen Sozialarbeiter stellen. Die Antwort, falls die zu erwartende Reaktion überhaupt als solche wertbar ist, wird jedermann zeigen, wie gering der Wille des im Artikel zitierten Oberbürgermeisters wirklich ist, etwas zu tun.
    Was er erfahren wird ist, wie gross die Diskrepanz zwischen der Selbstdarstellung eines kleinen Provinzfürsten in der Presse und der Wirklichkeit im Rathaus wirklich ist.

  2. o.V. sagt:

    „Schüler und Lehrer profitieren vom besonderen Verständnis, das Oberbürgermeister Paul Metzger (CDU) und der Gemeinderat für die Situation der Schulen haben.“
    In diesem Zusammenhang ist wohl die Frage erlaubt, ob inzwischen die Lehrpersonen der Max Planck Realschule über ein Lehrerzimmer mit ausreichendem Sitzplatzangebot verfügen.
    Sollte es immer noch fehlen, so profitieren die dortigen Lehrpersonen eben nicht „vom besonderen Verständnis, das Oberbürgermeister Paul Metzger (CDU) und der Gemeinderat für die Situationen der Schulen haben.“

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