Vom Flächenfraß zum nachhaltigen Management

Wohlstand, Mobilität und Individualisierung lassen auch in Stuttgart den Verbrauch von Grund und Boden steigen – der bislang zugleich Grundlage für Wirtschaftswachstum war

Stuttgart. Mehr Platz – das ist der Trend, dem viele Menschen in Baden-Württemberg gefolgt sind; Weitläufige Industriegebiete, große Supermärkte und geräumige Wohnungen sind in den vergangenen Jahrzehnten entstanden. Das Problem: Immer mehr Fläche wird verbraucht. Zu viel, meint Bernd Steinacher, Direktor des Verbandes Region Stuttgart (VES). Doch den Flächenverbrauch zu reduzieren, könnte die wirtschaftliche Entwicklung der Region Stuttgart bremsen, warnt Dirk Vallee, Technischer Direktor beim VRS. Um die verschiedenen Interessen unter einen Hut zu bringen, nimmt der VRS am Modellvorhaben Raumordnung (MORO) teil und erkundet Alternativen zum Flächenverbrauch.

Die jahrelangen Konflikte um den Flughafenausbau und die Landesmesse auf den Fudern haben es vor Augen geführt: Boden ist knapp geworden in der Region Stuttgart. Nach der wirtschaftlichen Boomphase wächst jetzt der Widerstand gegen das Tempo, mit dem alljährlich Äcker, Wald und Wiesen unter Beton und Asphalt verschwinden.

Allein zwischen 1965 und 2001 hat sich in dem Trapez zwischen Vaihingen/Enz, Backnang, Herrenberg und Geislingen die Siedlungs- und Verkehrsfläche von 41 300 Hektar auf 77 450 Hektar nahezu verdoppelt. Das entspricht einem zusätzlichen Flächenverbrauch von knapp 10 Prozent der regionalen Gesamtfläche in nur 36 Jahren. Angesichts dieser rasanten Entwicklung sorgt man sich beim Verband Region Stuttgart (VRS) um die Attraktivität der Lebensbedingungen für zukünftige Generationen. „Zwischen Flächenfraß und Landschaftspark – Quo vadis Region Stuttgart 2020″ lautet denn auch der Titel einer vom VRS initiierten Veranstaltungsreihe, in der an mehreren Tagen im März und April Fachleute aus Wissenschaft und Praxis zentrale Themen der Regionalplanung -wie Siedlungs- und Bevölkerungsentwicklung – sowie die seit diesem Jahr gesetzlich vorgeschriebene StrategischeJJmweltprü-fung diskutieren.

Gleich zu Beginn der Auftaktveranstaltung in Stuttgart stellte Verbandsdirektor Bernd Steinacher die Frage: „Kann der alte Grundsatz weiter gelten, dass jährlich ein Prozent der Gesamtfläche verbraucht werden darf?“ Zwar liegt der jährliche Flächenverbrauch in der Region bei 0,7 Prozent. Doch Steinacher fügte hinzu: „Wir fragen, ob auch dieser Wert zu verantworten ist.“

Die Ursachen für den enormen Flachenverbrauch sind komplex, wie Dirk Vallee, Technischer Direktor beim VRS, erläuterte. Infolge höherer Produktivität und zunehmender Automatisierung ist die Wirtschaftsleistung überproportional zur Be-völkerungs- und Arbeitsplatzentwicklung gestiegen. Maschinen brauchen Platz. Ebenso die mit einer zunehmenden Arbeitsteilung einhergehende Logistik. Auch der Einzelhandel spart Personal: Er setzt auf Selbstbedienung und damit auf mehr Fläche. Der gewachsene Wohlstand hat nicht nur mehr Mobilität ermöglicht, sondern auch dazu geführt, dass bei zurückgehender Geburtenrate und steigender Individualisierung je Haushalt weniger Menschen auf mehr Wohnfläche leben.

Vor diesem Hintergrund sieht sich der Verband Region Stuttgart laut Vallee in der Verantwortung, „ein langfristig tragfähiges Entwicklungskonzept für die Region und insbesondere für die Flachennutzung in der Region zu entwerfen“. Dies beinhaltet, dass die verschiedenen aufeinander treffenden Interessen zum Wohle der Allgemeinheit abgewogen und koordiniert werden müssen. Keinen Sinn ergebe es nach Vallee, wenn die Reduzierung des Flachen-verbrauchs die Entwicklung der Region in einem Maß bremsen würde, „dass daraus ökonomische Schwierigkeiten erwachsen“. Lebensqualität und Erreichbarkeit nannte Vallee als positive Eigenschaften der europäischen Metropolregion Stuttgart, die nach Den Haag und Paris den drittgrößten Verdichtungsgrad in Europa hat und deren Wirtschaft stark exportorientiert ist.

Während die Lebensqualität unter anderem mit dem Konzept eines Landschaftsparks gesichert werden soll, sorgen der Ausbau der Verkehrswege und der Infrastruktur sowie die Ansiedlung neuer überregionaler Institutionen dafür, dass die Nachfrage nach Entwicklungsflächen nicht abreißt. Die negativen Begleiterscheinungen sind bekannt: höherer Energieverbrauch in privaten Haushalten und im Verkehr, hohe Er-schließungs- und „Folgekosten, abnehmende Einwohnerdichten und daraus folgende mangelnde Tragfähigkeit sozialer und Versorgungsstrukturen.

Die zu erwartenden Trends machen die Lage nicht einfacher. Vallee wies darauf hin, dass sich angesichts der Diskussion um einen Bevölkerungsrückgang schon jetzt ein Wettbewerb zwischen kleinen Gemeinden um Einwohner und Steuerzahler abzeichne. Risiken sieht er auch in der anhaltenden Randwanderung der Bevölkerung, die günstige Bauplätze hinterherzieht, in der Veränderung der Alterspyramide sowie in der fortschreitenden Diversifikation der Wirtschaft und deren Auswirkung auf alle Lebensbereiche.

Daraus zog Vallee den Schluss, dass langfristig nur eine Konzentration der Sied-lungsentwicklung tragfähig ist. Schon jetzt sehe der Regionalplan 36 Schwerpunkte für Wohnsiedlungen und 26 für teils gemeinde-übergreifende.Gewerbestandorte sowie die Reaktivierung von Brachen vor Der Weg zum Ziel fuhrt laut Vallee über die Installation eines nachhaltigen regionalen Sied-lungsflächenmanagements. Beim Aufbau soll das Institut für Städtebau und Landesplanung der Universität Karlsruhe (ISL) helfen. Indem sich VRS und ISL gemeinsam am Programm „Modellvorhaben für Raumordnung“ (MORO) des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung beteiligen, haben sie sich die finanzielle Unterstützung durch den Bund gesichert. Andernfalls, so Vallee, hätten 89 000 Euro über Umlagen finanziert werden müssen.

Das Programm soll – und darin zeigt sich der Nachhaltigkeitsaspekt – den Vorrang der Innen- vor der Außenentwicklung sichern, innere Reserven wie Bahnareale, Gewerbe- und Industriebrachen aktivieren und zu einer behutsamen Nachverdichtung ermutigen Dies ist nach den Worten Val-lees nur auf Grundlage einer fundierten Übersicht über das in Frage kommende Flächenpotenzial möglich. Bei seiner Identifizierung und Nutzbarmachung können beispielsweise die Auswertung von Luftbildern und Bauleitplanen, Erkundungen vor Ort und die Einrichtung einer öffentlich zugänglichen Internetplattform helfen, wie Professor Bernd Scholl vom ISP erläuterte. Außerdem sollen Umsetzungsinstrumente erkundet sowie ein Ziel- und Grundsatzkonzept für die regionalplanerische Behandlung erarbeitet werden. Die Region beschreitet damit einen Weg, den die Landeshauptstadt bereits vor drei Jahren eingeschlagen hat. (siehe Interview).

Als ein Umsetzungsinstrument bezeichnete Vallee den Regionalplan. In seiner abgeschlossenen Fortschreibung wurden nicht nur rund 3500 Hektar für neue Wohnbau- und Gewerbeflachen ausgewiesen, sondern auch 9800 Hektar für Grünzüge und Grünzäsuren reserviert. In einem Landschaftspark sollen vorhandene Nutzungen wie Land- und Forstwirtschaft weiter ermöglicht und mit anderen Bedurfnissen wie beispielsweise Naherholung verbunden werden. Bei einer ersten Erhebung im vergangenen Jahr wurden rund 2000 Hektar gewerblicher Bauflächen identifiziert, die verfugbar oder planerisch gesichert sind. Allerdings reiche dieses Po-tenzial bei einem prognostizierten Jahresbedarf von 250 Hektar nur bis zum Horizont des aktuellen Regionalplans im Jahr 2010, stellte Vallee fest. Daher sei es notwendig, die Informationen über Umnut-zungs- und Umstrukturierungspotenziale zu vertiefen Bei den Wohnbauflächen muss nach seiner Auffassung Spielraum für Zuwanderungen und Modernisierungen gelassen und andererseits die Suburbani-sierung eingedämmt werden.

Für den 29. Juni kundigte der Technische Direktor des VRS einen ersten Workshop an, in dem mit den Kommunen, regionalen Entscheidungsträgern und Fachleuten diskutiert werden soll, welche Instrumente zur Aktivierung von Innenentwicklungspo-tenzialen in Frage kommen und welche Effekte erzielt werden sollen Die Ergebnisse des Modellvorhabens sollen dokumentiert und in einem Leitfaden zusammengefasst werden.

Chris Heinemann

Die Themen dieses Tages in einem anderen Jahr :

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