Ringen um jeden Einwohner

aus: Statistisches Monatsheft 12/2003

Gespräche des Mannheimer Morgen mit Bürgermeistern des Rhein-Neckar-Kreises und dem Statistischen Landesamt über die jüngste Bevölkerungs­prognose
Klaus Backes

Klaus Backes vom „Mannheimer Morgen“ führte im Juni 2003 Einzelgespräche mit den Bürgermeistern Hans Lorenz (Dossenheim), Rainer Ziegler (Ladenburg), Michael Kessler (Heddesheim), Peter Riehl (Schriesheim), Roland Marsch (Edingen-IMeckarhausen) und mit Wolfgang Walla (Statistisches Lan­desamt Baden-Württemberg) über die künftige Bevölkerungsentwicklung. Aus der Gesprächsserie wurde folgendes Gemeinschaftsinterview komponiert. Das Amt dankt dem Mannheimer Morgen und den Bürgermeistern.

Backes: Die Bevölkerung der Bundesrepublik altert und die Zahl der Deutschen nimmt ab. Wie wirkt sich dieser Trend auf die Gemeinden aus? Nach den Berechnungen des Statisti­schen Landesamtes wird zum Beispiel Laden­burg bis zum Jahr 2020 um 173 Einwohner schrumpfen. Sehen Sie darin ein Problem.

Ziegler: Nein, weil ich die dramatische demo­grafische Entwicklung kenne. Ein Rückgang um 1,5 % liegt da innerhalb der natürlichen Schwankungsbreite. Eher überraschend ist, dass für Heddesheim im gleichen Zeitraum ein Wachstum um 1 200 Einwohner voraus­gesagt wird.

Kessler: Diesen Zuwachs muss man erst mal wollen. Dafür müssen wir nämlich weitere Bau­gebiete ausweisen. In der jetzigen finanziellen Situation macht ein zu starkes Wachstum Pro­bleme, denn man muss die zusätzliche Infra­struktur finanzieren; Schulen, Kindergärten, Betreuungsangebote. Hier im Ballungsraum geht es aber um die Frage: Wollen wir weitere Bevölkerung haben oder nicht?

Walla: Das ist die Fragestellung, die uns Statistiker beschäftigt. Wir wollen ja nicht die Zukunft voraussagen, das wäre hochmütig. Wir wollen aufzeigen, was geschehen kann, wenn es weiter läuft wie bisher. Wenn die Geburtenzahlen weiterhin niedrig bleiben, wenn das noch zu erwartende Bevölkerungs­wachstum sich so über das Land verteilt, wie es in den letzten Jahren war. Wenn die Bevölkerung aus Ballungskernen abwandert und in deren Ränder zuwandert.

Backes: Können sich Kommunen auf diese Entwicklung einstellen? Der stark sinkende Anteil der unter 15-Jährigen und das enorme Anwachsen der über 65-Jährigen dürfte doch mehr Probleme bereiten als ein geringes Ab­sinken. Kann es sein, dass es einen Wettbewerb zwischen den Gemeinden um junge Familien gibt?

Lorenz: Am gravierendsten für Dossenheim ist in der Prognose der Rückgang der 35- bis 40-Jährigen. Da gibt es ein Minus von über 1 000. Es wird in Zukunft notwendig sein, dass die Kommunen Anstrengungen unternehmen, um junge Leute zu bekommen. Unsere Ge­meinde ist durch die Nähe zu den Großstädten sehr attraktiv. Wir haben aber auch viel getan: hervorragende Kinderbetreuung, großzügige Sportanlagen. Das wird gerade von jungen Familien immer wieder lobend erwähnt. Mei­ne persönliche Prognose: Die Verschiebung der Altersstruktur wird auch in Dossenheim bemerkbar sein, aber gerade bei den 25- bis 40-Jährigen wird es nicht zu einem starken Einbruch kommen.

Walla: Aber vielleicht 20 Jahre später. Die heute 25- bis 40-Jährigen sind dann 45- bis 60-Jährige, meistens bereits etabliert und werden andere Anforderungen an die Kommunen haben als heute.

Kessler: Ich sehe in der Altersverteilung für das Jahr 2010 keine Brisanz. Wenn es so ein­tritt, ist Heddesheim nicht überaltert. Die stei­gende Zahl älterer Menschen muss aber bei der kommunalen Entwicklung berücksichtigt werden. Das machen wir unter anderem durch unseren städtebaulichen Wettbewerb, mit dem wir einen Verbrauchermarkt im Ortskern halten wollen. Das zweite Projekt ist der Marktplatz hinter dem Rathaus. Um den Marktplatz her­um könnten Gebäude mit altengerechten Wohnungen entstehen.

Ziegler: Wir müssen uns bei der Stadtent­wicklung darauf einstellen, dass hier in Zukunft wesentlich mehr Ältere leben Das hat Auswirkungen auf Wohnen, Bauen und Infrastruktur. Wir müssen die Angebote für betreutes Wohnen und Pflege erweitern Und der öffentliche Personennahverkehr muss verbessert werden Zudem gilt es, für die Älteren die Nahversorgung im Auge zu behalten, also Geschäfte, die ein Grundangebot bereithalten. Oder wir müs­sen Möglichkeiten schaffen, damit die weniger mobilen Menschen zu den Märkten kommen können.

Marsch : Es gibt aber noch viele weitere Aspekte, die mit der Überalterung zu tun haben Ein Beispiel Die Vereine werden es schwerer haben, genügend Jugendliche zu finden.

Backes:Wenn das „Brotfabrik Areal“ im Ortsteil Edingen bebaut wird, durfte die Prognose des Statistischen Landesamtes überholt sein Oder sehen Sie das anders?

Marsch: Ob dies die Prognose über den Haufen wirft, dazu mochte ich keine Vorhersage abgeben. Als nämlich zu Beginn der 90er Jahre mit der Erschließung des Gebiets „Haupt­straße III“ im Edingen begonnen wurde, gingen wir von einem Zuwachs zwischen 1 200 und 1 500 Menschen aus. Alle haben damals von der Notwendigkeit neuer Kindergärten und von Anbauten an Schulen gesprochen. Tatsächlich aber ist die Bevölkerung in Edingen-Neckarhausen trotz dieses Baugebietes um einige hundert Kopfe zurückgegangen. Aber die Zahl der Quadratmeter Wohnfläche pro Kopf hat sich erhöht Deswegen wage ich keine Prognose. Wir haben noch nach 10 Jahren freie Flachen im Gebiet „Hauptstraße III“.

Lorenz: In der Vergangenheit war es bei uns in Dossenheim so, dass pro Jahr ein erhöhter Wohnraumbedarf pro Person entstand Wenn der Trend fortbesteht, würde die Bevölkerung m Dossenheim ohne neuen Wohnraum in den nächsten 10 Jahren drastisch zurückgehen. Die Infrastruktur unserer Gemeinde ist aber auf eine Bevölkerungszahl zwischen 12 000 und 13 000 ausgelegt. Wenn wir nur 10 000 hätten, dann müssten diese Menschen die gesamte Infrastruktur bezahlen. Das ist ein Grund für unser neues Baugebiet für 600 bis 700 Menschen, mit dem wir die gewünschte Bevölkerungszahl erreichen können.

Riehl: Es wird bei den Kommunen ein Ringen um jeden Einwohner geben. Und dabei wird entscheidend sein, wer über die bessere Wohnlage sowie über die interessanteren kul­turellen und Bildungseinrichtungen verfügt.

Backes:Herr Rieh! was sagen Sie zu der Prognose des Statistischen Landesamtes und warum braucht Schriesheim eigentlich eine größere Zahl von Einwohnern?

Riehl: Den Wert für 2010 halte ich für realistisch, aufgrund des Baugebiets Nord werden wir einen derartigen Anstieg verzeichnen können. Den sehr hohen Wert für 2020 finde ich aller­dings zu hoch gegriffen. Ich glaube nicht, dass Schriesheim die 16 000 Einwohner Grenze er­reichen wird. Die Erfahrung lehrt: Wenn 1 000 Menschen in ein Neubaugebiet ziehen bedeutet das nicht automatisch 1000 zusätzliche Bürger für die Gesamtstadt. Etwa 40 % muss man wieder abziehen.

Backes:Warum braucht Schriesheim eigenlich eine größere Zahl von Einwohnern?

Riehl: Zunächst einmal ist die Einwohnerzahl die zentrale Bemessungsgrenze für Finanz- Zuweisungen des Landes, die wiederum eine wichtige Einnahmequelle für jeden kommunalen Haushalt sind. Zum Zweiten erlaubt eine höhere Bevölkerungszahl eine effektivere Organisation der Verwaltung. Die Grenze liegt hier bei 15 000 Einwohnern.

Walla: In Baden Württemberg waren wir m den letzten Jahrzehnten sehr begünstigt. Hier stieg die Bevölkerungszahl seit 1950 um 67 %, in den übrigen der alten Bundesländer zusammen nur um 28 %. Was aber wenn ohne Zuwanderung die Bevölkerungszahl nicht mehr wächst, das heißt, auch nichts mehr zu verteilen ist? Wir haben eine Status-quo-Prognose berechnet. Wenn sich die exogenen wirtschaftlichen, politischen oder demografischen Rahmenbedingungen ändern sollten, sind unsere Berechnungen hinfällig.

Backes:Ganz falsch wäre dann, jetzt hektisch Baugebiete auszuweisen um möglichst viele Menschen in die eigene Kommune zu ziehen, bevor der Alterungstrend durchschlägt. Denn in wenigen Jahrzehnten konnten diese Neubaugebiete für ein derartig großes Überangebot auf dem Wohnungsmarkt sorgen dass sich Leerstände häufen und Immobilien drastisch an Wert verlieren.

Hinweis : In der Januarausgabe des „Statistischen Monatshefts“ wird in einem Kurzbeitrag die aktuelle regionale Bevölkerungsvorausrechnung für Baden-Württemberg bis 2020 auf Kreisebene kommentiert Ausführliche Ergebnisse sind im Statistisch-prognostischen Bericht 2003 nachzulesen (zu bestellen unter Tel 0711/641 2866)

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